Eine häufig gestellte Frage: Warum dauert das Schreiben- und Lesenlernen an der Waldorfschule eigentlich länger als üblicherweise an Regelschulen? Die Antwort: Wir nehmen uns einfach die Zeit, denn die Ergreifung unserer alten Kulturtechnik ist ein sehr anspruchsvoller und komplexer Prozess. Dazu lassen wir den Kindern gerade am Anfang viel Zeit, sich auf verschiedene Weise den Buchstaben und Lauten anzunähern, Sprache zu erleben und zu erforschen. Es zeigen sich hier auch die individuellen Lernwege der jungen Lerner, die dann ganz genau beobachtet werden können.
Buchstaben erkennen, Laute hören und zuordnen
Buchstaben sind abstrakt, ihr Aussehen wurde irgendwann festgelegt und einem Laut zugeordnet. Um Lesen und Schreiben zu erlernen, müssen immer wieder einzelne Laute der Sprache herausgehört und mit der Darstellung von Buchstaben verknüpft werden. Andersherum schließt das „Aussehen“ von Buchstaben auch auf einen Laut.
Vom Buchstaben zum Wortbild
Geübte Leser können dann im Laufe der Zeit und auf einen Blick nicht nur Buchstaben, sondern auch Silben, ganze Wörter oder häufig vorkommende Satzbausteine erkennen. Unser Gehirn ist nämlich stets auf das Herausfiltern und Erstellen von Mustern spezialisiert. So prägt sich durch Wiederholung und Übung im Laufe der Zeit eine Art Grundform, ein Bild für jedes einzelne Wort ein, genannt Wortbild. Im Bruchteil einer Sekunde werden dann also gesehene Wortbilder mit den im Gedächtnis abgespeicherten Wortbildern abgeglichen und mit Bedeutung verknüft, ein Automatismus stellt sich ein. Bekannte Worte und Wortbilder werden dadurch deutlich schneller gelesen als unbekannte. Und dies spart uns viel Energie, denn unsere Augen erfassen bald beim Lesen die Wortformen sprunghaft, also von Wort zu Wort. Dabei entsteht beizeiten ein immer schnellerer und gleichmäßigerer Lesefluss.
Über Lese-Rechtschreib-Schwäche
Andersherum: Sind Wortbilder noch nicht oder nur in geringer Menge angelegt, verbrauchen wir beim Lesen und Schreiben durch kleinschrittige Einzelarbeit viel Energie – und das ermüdet. Eine Schwierigkeit, die Kinder mit Lese-Rechtschreib-Schwäche haben, ist daher die Bewältigung von bestimmten Arbeitspensen. Neben den visuellen und auditiven Fähigkeiten und der persönlichen Gedächtnisleistung sind auch die Konzentrationsfähigkeit sowie die Erreichbarkeit der Kinder über ihren individuellen Lernzugang, ein Einflussfaktor beim Lernen. Ziemlich komplex, oder? Warum sollte man sich also nicht die Zeit dafür nehmen, kleine Kinder in Ruhe auf das Lesen und Schreiben vorzubereiten?
Die Lernzugänge der Lernenden
Es gibt verschiedene Lernzugänge, über die wir als Lernende erreichbar sind. Meist entwickeln sich aber ein oder zwei Schwerpunkte, die dann als Lerntypen bezeichnet werden. Ich schildere an dieser Stelle meine eigene Wahrnehmung und Erfahrung:
Auditive Lerner hören die einzelnen Sprachlaute sehr gut heraus, brauchen aber etwas mehr Zeit, diese auch als Bild und später Wortbild abzuspeichern. Sie sprechen sich selbst beim Schreiben die einzelnen Wörter meist langsam, laut- und silbenweise, vor – so, wie sie sie hören. An das Aussehen der Wortbilder erinnern sie sich nicht immer sicher. Sie müssen dann für sich die Wörter nochmals „anhören“ und von dem Gehörten ableiten (da nur etwa 60 % unseres Wortschatzes „Hörwörter“ sind, entstehen dadurch mit der Zeit leider viele Rechtschreibfehler).
Die haptisch-kinästhetischen Lerner finden ihren Zugang durch Anfassen und Fühlen. Hier hilft es den Kindern beispielsweise, Buchstaben mit einem Seilchen, Schneckenbändern oder Fäden zu legen und nachzufühlen.Auf Sandtabletts zu schreiben, Buchstaben oder Wörter nachzukneten oder mit Tasttäfelchen nach Montessori arbeiten zu dürfen. Kinder mit höherem haptisch-kinästhetischen Lernanteil haben während des Unterrichts oft Dinge in der Hand, die sie fühlen. Es steckt also beim Herumspielen mit Stiften, Radiergummi usw. nicht unbedingt immer ein „Ablenkungsmanöver“ dahinter – eventuell hat es einfach mit dem individuellen Lernzugang zu tun. Ich habe u.a. auch ein Fühlmemory, mit dem ich auf spielerische Weise Hinweise darüber bekomme, ob ein Kind in höherem Maße haptisch-kinästhetisch lernt. (z.T. Affiliate Links)
Kognitiv-intellektuelle Lerner lernen das Schreiben bevorzugt durch Lesen, das sie geduldig üben und die korrekte Rechtschreibung anhand von Regeln, die sie sich bald zuverlässig merken und gezielt anwenden können. Sie mögen übrigens den klassischen Frontalunterricht und finden offene und freie Arbeitsphasen manchmal eher verwirrend. Klare Abläufe, Erklärungen und Strukturen sind ihnen lieber. Dennoch lassen sie sich gern auf alles Andere ein, checken aber sicherheitshalber hier und dort noch einmal ihre Lernstation ab.
Kommunikative Lerner brauchen ihr Gegenüber zum Lernen. Sie lernen besonders gut, wenn jemand ihnen die Inhalte spiegelt, sie durch Nachfragen angeregt werden oder selbst nachfragen können. Vor allem, wenn andere Kinder ihnen in eigenen Worten etwas erklären, lernen sie am besten – und am liebsten. Sie profitieren sehr von Partnerarbeit.
Bewegungsfreudige Lerner
Hier werden die Buchstabenpfade balanciert, über gemeinsam gelegte Seilchen oder sogar die Bänkchen des bewegten Klassenzimmers. Die sehr bewegungsfreudigen Lerner klatschen und stampfen auch gern die Silben, bewegen sich mit passenden Gesten zu den Sprüchen der Buchstabengeschichten.
Sollte dann besser mal ein Lerntypentest gemacht werden?
Ihr merkt, es braucht einige Zeit und verschiedene Lernzugänge, um das fließende Lesen und eine korrekte Rechtschreibung zu erlernen. Man muss aber nicht mit jedem Kind einen Lerntypentest durchführen. Lehrer:innen erkennen normalerweise die verschiedenen Lerntypen und gestalten ihren Unterricht ohnehin so, dass die Kinder auf verschiedene Weise angesprochen werden.
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So arbeiten wir im Allgemeinen:
- Ein Buchstabe wird mit einem Bild in Verbindung gebracht, dazu wird eine Geschichte erzählt, die den dargestellten Laut besonders häufig enthält und hörbar macht. Meist sind die Geschichten von kleinen Verschen begleitet, die sich schnell einprägen und mitgesprochen werden können. Das Bild zu der Geschichte und dem Buchstaben wird von den Kindern ins Heft gemalt.
- Am nächsten Tag wird die Geschichte mit eigenen Worten wiederholt, die Verschen gesprochen und aus dem Anfangsbild der Buchstabe herausgearbeitet. „Wer hat uns das K gebracht?“ – „Der König!“ Die Kinder üben nun die Schreibweise des Buchstabens auf dem Sandtablett, kneten ihn, legen ihn ganz groß mit Seilchen in den Sitzkreis, balancieren dann darüber usw. Auch werden weitere Wörter gesucht, die mit diesem Buchstaben beginnen, ihn enthalten oder auf ihn enden. Laut und Bild werden auf vielfache Weise erlebt. Der Buchstabe wird anschließend groß ins Heft gemalt.
- Wieder am nächsten Tag werden die Verschen gesprochen, die Buchstaben nun in Reihen in das Heft geschrieben und eine neue Buchstabengeschichte bzw. die Fortsetzung der Geschichte mit einem anderen Buchstaben kommt dazu.
- Sobald die ersten Buchstaben da sind, werden auch Wörter gebildet und gelesen. Ich habe zuerst die Vokale eingeführt und dann die ersten Konsonanten, mit denen man schon einige Worte bilden konnte, z.B.ab dem M war zu lesen und zu schreiben: MAMA, OMA, AM, IM, MIA, UM usw.
Es gibt dabei übrigens keinen vorgeschriebenen Plan, welcher Buchstabe wann dazu kommt und ob die kleinen Buchstaben bereits parallel oder erst später erlernt werden. Es liegt in der Einschätzung der Lehrkraft zu erkennen, wie sie ihre Lerngruppe am besten unterrichten kann und ihr dann zu geben, was sie braucht. Mein Eindruck ist inzwischen, dass viele Kolleg:innen dazu übergegangen sind, zugleich die kleinen Buchstaben mit einführen. Es gibt gute Gründe, dies zu tun und ebenso auch Gründe, es zunächst bei den Großbuchstaben zu belassen und ihnen später die Kleinbuchstaben an die Seite zu stellen.
Und wann kann man von LRS sprechen?
Wie angedeutet, sind manche Lerntypen etwas „anfälliger“ für bestimmte Rechtschreibfehler – oder brauchen schlicht und ergreifend etwas mehr Zeit, um das Lesen und Schreiben auf ihre Weise zu erlernen. Ob und welche Form einer Teilleistungsschwäche in diesem Bereich tatsächlich vorliegt, zeigt sich im Laufe der ersten Schuljahre. Da wir an der Waldorfschule eben mehr Zeit für die Erarbeitung der Grundlagen einplanen, ist begleitend eine sorgfältige Beobachtung der Lehrkraft möglich und wichtig. Wer vergisst schnell, wie die Buchstaben aussehen? Wer schreibt spiegelverkehrt? Wie ist es um die Lateralität (Händigkeit) bestellt? Weitere Ausprägungen zeigen sich nach einiger Lese- und Schreibpraxis. Hinzu kommen die individuelle Merk- und Konzentrationsfähigkeiten. Bestimmte Fehler sind anfangs normal und gehören in den Gesamtprozess. Hier helfen interessierte Gespräche über die Schreibweise. Die Erklärungen der Kinder und das selbständige Nachdenken über Rechtschreibstrategien sind ebenfalls wichtig beim Erlernen der Schriftsprache und liefern weitere Erkenntnisse. Ein individueller Blick ist also immer auch wichtig – Zeit lassen: Ja. Aber wiederum nicht warten, bis sich ein Kind selbst als Schlusslicht der Klasse wahrnimmt.
Fazit:
Schule und Elternhaus brauchen einen regelmäßigen Austausch!
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